Ideengeschichtliche und kompositionsästhetische Perspektiven zur Symphonischen Dichtung (IKOPS) – Minigraduiertenkolleg an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz

Symphonische Dichtungen – neu betrachtet: In dem Minigraduiertenkolleg entwickeln drei Promovierende gemeinsam mit ihren Betreuer:innen einen neuen Ansatz zur Erforschung der Symphonischen Dichtung. Gemeinsam nähern sich die Forschenden dem vielschichtigen Genre durch interdisziplinäre Forschung zwischen Musikwissenschaft und Musiktheorie und tauchen tief in die komplexen Wechselbeziehungen zwischen Komponieren, Kulturgeschichte und ideengeschichtlichen Zuschreibungen ein, um die weitreichende Bedeutung der Symphonischen Dichtung im 19. Jahrhundert neu zu beleuchten.
Ausgeschrieben werden deshalb drei Promotionsstipendien in Höhe von 1.550 EUR monatlich. Informationen zur Bewerbung finden Sie hier.

Projektbeschreibung

Das Minigraduiertenkolleg zielt darauf ab, die Symphonische Dichtung aus verschiedenen kulturhistorischen Perspektiven zu erforschen. Es geht darum, die Gattung nicht nur anhand einzelner Komponist:innen zu betrachten, sondern in interdisziplinären Perspektiven unterschiedliche Themen, Rezeptionsweisen und Kompositionsstile insbesondere im 19. Jahrhundert zu analysieren. Drei Ansätze stehen dabei im Zentrum des Interesses: erstens wie Ideen über den ›Inhalt‹ der Musik die Kompositionen beeinflussen, zweitens wie die Wahl des Sujets im Vergleich zu Opern des 19. Jahrhunderts aussieht und drittens wie die Gattung zur Bildung nationaler Identitäten beitrug. Die Verbindung von Musikwissenschaft und Musiktheorie ist für diese Untersuchungen ideal, da sie ein besseres Verständnis der kulturellen und kompositorischen Praktiken im Kontext narrativer Musikstrukturen ermöglicht.
Einblicke in die Verbindungen zwischen Musiksprache, allgemeinen kunstkulturellen Entwicklungen und Diskussionen zu kulturellen Identitäten versprechen neue Erkenntnisse über wesentliche Tendenzen im 19. Jahrhundert, die zwar andere Bereiche wie politische oder ökonomische Fragen betrafen, sich aber einerseits ebenso kompositionspraktisch manifestierten, wie sie andererseits über die Rezeption gerade von der Symphonischen Dichtung befördert wurden. Diese Fragenkomplexe, die gleichzeitig als drei sich ergänzende Promotionsthemen geplant sind, bilden das Gerüst des Graduiertenkollegs. Sie stellen eine übergeordnete Forschungsstruktur dar und eröffnen untereinander vielfältige Anschlussmöglichkeiten.

Fragenkomplex 1: Kompositionstheoretische Perspektiven auf Symphonische Dichtungen

Betreuer: Univ.-Prof. Dr. Immanuel Ott
Eng mit der Symphonischen Dichtung sind kompositionstheoretische und -praktische Problemstellungen verbunden, die sowohl im historischen Diskurs als auch in der modernen Wahrnehmung zu Rezeptionsproblemen gerade im Hinblick auf ästhetische Wertungen führten und führen. Die Debatte um die sogenannte ›Neudeutsche Schule‹ stellt dabei nur ein Teilmoment eines weiterzufassenden Problemfelds dar, das sich aus Fragen von Darstellbarkeit in Musik ergibt. Hier lassen sich zu Beginn des 19. Jahrhunderts im Bereich der sogenannten deutschen Romantik vor allem Positionen feststellen, in denen die plastische musikalische Darstellung als ästhetisch primitiv verworfen wird – während Musik zugleich aber als generell ›darstellend‹ wahrgenommen wurde. Bereits 1814/15 benennt E.T.A. Hoffmann in »Beethovens Instrumental-Musik« diese Problematik, die sich in der Symphonischen Dichtung aufs Deutlichste zuspitzt.
Im Vordergrund des ersten Fragenkomplexes stehen deshalb Überlegungen zu intermedialen, kompositionspraktischen und musiktheoretischen Bezügen, die sich sowohl innerhalb der Gattung als auch im Kontext zu anderen, typischerweise nicht mit ihr verbundenen Musiken ergeben. Naheliegend ist so die Berücksichtigung von Diskussionen zum einen der engen Beziehungen der Gattung zur Opernouvertüre und damit zum Musiktheater speziell in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts sowie zum anderen über ›Form und Inhalt‹ von Musik, die im Rahmen von musikästhetischen und musiktheoretischen Diskursen geführt wurden. Damit wird das kulturgeschichtliche Ausdeutungspotenzial in genere beleuchtet und es können die Möglichkeiten, daraus abzuleitende »Ideal[e] von Seelenstimmungen« musikalisch – und zwar vor allem satztechnisch – darzustellen, umrissen werden.

Immanuel Ott studierte Musiktheorie an der Hochschule für Musik und Theater Rostock und unterrichtete im Lehrauftrag an den Musikhochschulen in Rostock, Lübeck, Osnabrück und Münster. Von 2008–2011 promovierte er bei Oliver Korte an der Musikhochschule Lübeck, 2014 erschien seine Dissertation unter dem Titel »Methoden der Kanonkomposition bei Josquin Des Prez und seinen Zeitgenossen« im Olms-Verlag. Von 2011 bis 2015 war er Dozent für Musiktheorie an der Folkwang Universität der Künste in Essen, 2015 wurde er zum Professor für Musiktheorie an die Hochschule für Musik Mainz berufen. Von 2017 bis 2023 war er dort Rektor. Sein Forschungsschwerpunkt liegt auf der Rekonstruktion von Kompositionsprozessen speziell der Musik der Renaissance, sowie dem Zusammenhang von Ästhetik und Musiktheorie im 19. Jahrhundert. Seine Kompositionen wurden unter anderem von der Württembergischen Philharmonie Reutlingen und der Norddeutschen Sinfonietta aufgeführt. Von 2016 bis 2020 war er Präsident der Gesellschaft für Musiktheorie (GMTH).
Homepage: https://www.musik.uni-mainz.de/lehrende/immanuel-ott/
Kontakt: immott@uni-mainz.de

Fragenkomplex 2: Sujets und Stoffgeschichte(n) in Symphonischen Dichtungen

Betreuerin: Univ.-Prof. Dr. Stefanie Acquavella-Rauch
Was sagt die Vielfalt an Sujets über die Gattung, ihre Rezeption und ihre Verankerung in der Kulturgeschichte des 19. Jahrhunderts aus und inwieweit wandelt sich die Stoffgeschichte im Vergleich mit anderen Gattungen wie beispielsweise der Oper? Im Rahmen dieses Fragenkomplexes stehen sowohl Fragen der Stoffwahl als verbindendes Element zu anderen Gattungen wie der Oper als auch diesbezügliche, aber aus der Sinfonik adaptierte Aspekte musikalischer Gestaltung im Fokus. In der Symphonischen Dichtung wird einerseits das Undarstellbare zu Darstellbarem, während andererseits Elemente der Sujets entgegen des proklamierten Konzepts figurativ aufgegriffen und tonmalerisch verwendet werden. Gerade in Bezug auf die Stoffgeschichte offenbart sich deshalb ein Bedarf an tiefergehenden Auseinandersetzungen vor der Folie kulturgeschichtlicher Ereignisse und Strömungen innerhalb des gesetzten Zeitraums. Analog zu Untersuchungen im Musiktheater gilt es, diesbezügliche theoretische Grundlagen für die Gattung zu diskutieren, die diesen Ansatz für gattungsbezogene Überlegungen dienstbar machen.
In einer Vorstudie konnten 450 erfasste Symphonischen Dichtungen bereits bezüglich ihrer Stoffauswahl eingeordnet werden, wobei sich vor allem vier Kategorien als prominent erwiesen: natur- und nationenbezogene Sujets sowie solche aus Märchen bzw. Sagen und aus literarisch-künstlerischen Kontexten. Diese Sujet-Kategorien – als Untersuchungsbereiche begriffen – erlauben die interdisziplinäre Ergründung des Nebeneinanders verschiedener ästhetischer Ansätze im 19. Jahrhundert in der Berührung verschiedener Künste und sollen im Hinblick auf ihre kulturelle Ausdeutung im langen 19. Jahrhundert untersucht werden.

Stefanie Acquavella-Rauch studierte Musikwissenschaft, Historische Hilfswissenschaften und Anglistik / Linguistik an der Philipps-Universität Marburg, wo sie 2008 mit der Arbeit »Die Arbeitsweise Arnold Schönbergs – Kunstgenese und Schaffensprozess« (erschienen 2010 bei Schott Music) promoviert wurde. Zwischen 2007 und 2011 nahm sie Lehraufträge an verschiedenen Hochschulen wahr und war 2013 Visiting Scholar an der University of California, San Diego. Nach einer Tätigkeit als wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Bayreuth war sie von 2009 bis 2016 Akademische Rätin und Oberrätin am Musikwissenschaftlichen Seminar der Universität Paderborn und der Hochschule für Musik Detmold. Dort habilitierte sie sich 2016 mit der Arbeit »Musikgeschichten: Von vergessenen Musikern und ›verlorenen‹ Residenzen im 18. Jahrhundert« (erschienen 2019 bei Peter Lang). Von 2016 bis 2022 war sie Juniorprofessorin für Musikwissenschaft an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz, zwischen 2016 und 2021 im Rahmen der Gluck Gesamtausgabe auch an der Akademie der Wissenschaften und der Literatur Mainz. 2020 schlug sie einen Ruf der Staatlichen Hochschule für Musik Trossingen aus und nahm das Mainzer Bleibeangebot an. Seit 2022 ist sie Universitätsprofessorin für Historische Musikwissenschaft an der JGU und war 2023 erneut Visiting Scholar an der University of California, San Diego.
Homepage: https://www.musikwissenschaft.uni-mainz.de/personen/prof-dr-stefanie-acquavella-rauch/
Kontakt: acquavellarauch@uni-mainz.de

Fragenkomplex 3: Symphonische Dichtungen und nationale Identitäten

Betreuer: Univ.-Prof. Dr. Birger Petersen
Welche Identifikationsbewegungen des 19. Jahrhunderts und Prozesse des Nation Building können über das Nachdenken über die Symphonische Dichtung näher bestimmt werden?
Hier sollen Fragen und Probleme diskutiert werden, die durch eine Erarbeitung der Gattung als Teil der oft weit in die kulturelle Produktion hineinragenden Bildung nationaler Identifikationsmuster entstehen. Unterschiedliche Zugänge lassen sich hier unterscheiden: Komponist:innen bezogen sich in ihren Werken auf Volksdichtungen, verarbeiteten Volksmelodien oder ließen sich von Landschaften inspirieren. Diese Ausgangspunkte stehen dabei wiederum selbst für ein unterschiedliches Verständnis von ›Nationalität‹ und sind zutiefst von den politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen im Europa des 19. Jahrhunderts selbst geprägt – die Produktion von Symphonischen Dichtungen im Kontext einer nationalen Identitätsbewegung erscheint als spezifisch für die jeweiligen Länder.
Ausgehend von den Gattungsvertreterinnen, die – etwa in den noch jungen Nationen Skandinaviens, aber in gleicher Weise in Italien oder Frankreich sowie im slawischen Kulturraum – im Kontext einer nationalen Selbstverortung im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts entstanden sind, soll in der Verflechtung kulturhistorischer Perspektiven mit solchen der Kompositionspraxis untersucht werden, inwieweit sich nationale Identitäten auch kompositionstechnisch und -ästhetisch manifestieren.

Birger Petersen studierte Musiktheorie und Komposition an der Musikhochschule Lübeck sowie Musikwissenschaft, Theologie und Philosophie an der Christian Albrechts-Universität Kiel, wo er 2001 mit der Arbeit »Die Melodielehre des Vollkommenen Capellmeisters von Johann Mattheson« promoviert wurde. Neben Lehrtätigkeiten in Lübeck, Bremen, Herford, Greifswald und Osnabrück war Birger Petersen zehn Jahre lang Kirchenmusiker im holsteinischen Eutin und schließlich an der Hochschule für Musik und Theater Rostock tätig (2008 Ernennung zum Professor); 2011 wurde er auf eine Universitätsprofessur für Musiktheorie an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz berufen. 2017 habilitierte er sich dort zusätzlich in Musikwissenschaft mit der Arbeit »Satzlehre im 19. Jahrhundert. Modelle bei Rheinberger« (Bärenreiter-Verlag Kassel).
Birger Petersen war 2014 Prorektor sowie von 2015 bis 2017 Rektor der Hochschule für Musik Mainz sowie 2014 bis 2016 Vizepräsident der Gesellschaft für Musiktheorie; im Studienjahr 2017/2018 forschte er als Senior Fellow am Alfried Krupp Wissenschaftskolleg Greifswald. 2021 wurde er für besondere Verdienste in Forschung und Lehre mit dem Akademiepreis des Landes Rheinland-Pfalz ausgezeichnet. Er war 2021 Gastprofessor an der University of Middlebury in Vermont (USA) und ist seit 2023 Associate Researcher an der Theologische Universiteit Apeldoorn (NL).
Homepage: https://www.musik.uni-mainz.de/lehrende/birger-petersen/
Kontakt: birger@uni-mainz.de